DAS GESCHENK DER LETZTEN AUGENBLICKE

DAS GESCHENK DER LETZTEN AUGENBLICKE

Vom wertvollen Umgang mit der uns verbleibenden Lebenszeit, von KRANKHEIT und vom ABSCHIED eines geliebten Menschen.

Eine Transformationsgeschichte, die hilft eine andere Sichtweise auf das Leben und das Sterben zu bekommen.

Ein Artikel von mir, erschienen in der Zeitschrift „gesund und glücklich“, Ausgabe 18, Herbst 2017 / Winter 2018:

Viele Menschen kennen das Gefühl, wenn eine nahestehende Person plötzlich eine Diagnose erhält, die eine Konfrontation mit der Möglichkeit des Sterbens mit sich bringt.

Geschockt und traumatisch nehmen wir solche Momente wahr. Unser vegetatives Nervensystem als Betroffene, ebenso wie als Angehörige schaltet auf die höchste Alarmstufe und wir beginnen wegzuschieben, was nicht sein darf. Zu furchtbar ist die Vorstellung vom unfreiwilligen Abschied.
Oft aktivieren wir unseren lösungsorientierten Verstand und versuchen alles, um der möglichen Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen. Der Tod darf nicht da sein.

Gleichzeitig feiern wir jedes Jahr an Geburtstagen die Geburt des Lebens. Die Mehrheit von uns möchte im Augenblick der Geburt eines Menschen dabei sein, doch beim Sterben wollen das die Wenigsten.

Wie absurd und lebensfremd erscheint dies bei näherer Betrachtung?

DAS LEBEN IST EIN KOMMEN UND GEHEN, DOCH WIR WOLLEN NUR KOMMEN UND NIE MEHR GEHEN.

In unserer Kultur ist der Tod ein Schreckgespenst, dem man auf keinen Fall begegnen möchte und so dreht sich die meiste Zeit unseres Lebens um die Angst vor dem Sterben.
Unzählige Dienstleistungen, Versicherungen und Konsumgüterangebote profitieren von unserem Ehrgeiz möglichst lange zu leben und verdienen daran, dass wir IHN vermeiden wollen: den TOD.

Doch wie wir mit dem Tod umgehen, hängt davon ab, was wir über den Tod denken. Und da wir zweifelsohne in unserer Kultur über den Tod über Jahrhunderte hinweg nicht allzu gut gedacht haben, angeschürt von religiösen Auslegungen, in denen der Tod als Strafe für Sünde und Tor zur Hölle herhalten musste, wurden uns schließlich auch jene Erfahrungen beschert, die wir durch unser Angstdenken erschaffen haben. Zu sterben scheint das erbärmliche Ende einer Kapitulation im Lebenskampf zu sein. Wir untermauern das zusätzlich, indem wir es auf Krankenhäuser, Pflegeheime, Hospizeinrichtungen oder in die häusliche Einsamkeit verlagern. Wer so über den Tod denkt, der muss ihn quasi fürchten.

WÄRE ES NICHT BESSER, ANSTATT ÜBER DIE VERMEIDUNG DES TODES ÜBER DIE ZEIT NACHZUDENKEN, DIE UNS BLEIBT, UM IHR DEN SINN ZU GEBEN, DEN SIE VERDIENT?

Wenn diese Erkenntnis erst spät durch ein äußeres Ereignis der inneren Not ausgelöst wird, bleibt zumindest eines: DEN WERT des LANGSAMEN ABSCHIEDS zu erkennen.

Nun mag es absurd erscheinen, inmitten von Siechtum und seelischen sowie körperlichen Schmerzen, im langsamen Abschied etwas Schönes und Besonderes sehen zu wollen.
Doch es lohnt, den Mut dafür aufzubringen.

In jeder Minute des Abschieds, ob es sich nun um Wochen handelt, um Tage oder nur um Sekunden, ist ein Geschenk zu finden, weil wir DIE LETZTE GROSSE CHANCE FÜR EINE AUTHENTISCHE UND WAHRHAFTIGE BEGEGNUNG bekommen.

Ich habe diese Erfahrung machen dürfen, als ich im Kreise meiner Familie erfuhr, dass meine Mutter an der Krankheit ALS – Amyotrophe Lateralsklerose leidet. Unheilbar und tödlich.

Die Betroffenen erleben bei vollem Bewusstsein, wie ihr Körper nach und nach alle Funktionen verliert – Bewegung, Sprache, Schlucken und schließlich das Atmen.

Ich war gerade im siebten Monat schwanger, auf Freude und auf ein neues Leben eingestellt. Doch von einer Sekunde auf die andere standen alle Familienmitglieder unter Schock.

Doch schon in den ersten Sekunden dieses lähmenden Ausnahmezustandes zeigte sich eine kleine Chance des Augenblicks der unausweichlichen Tatsache ins Auge zu sehen und sie beim Namen zu nennen. Ich presste eine Frage hervor, die alle dachten, aber keiner aussprechen konnte: WIE LANGE NOCH?

Die Antwort des Arztes kam schnell: Maximal 3-4 Jahre. Er fügte hinzu welches Siechtum die Krankheit mit sich bringen würde und es war klar, der Abschied ist unausweichlich nah. Eine düstere Zukunft stand uns bevor. Dachten wir.

In den ersten Wochen nach der Diagnose versanken wir tränenreich in einer Opferecke. Wir haderten mit dem Schicksal und quälten uns in einer Achterbahn von Ohnmachtsgefühlen, eingebettet in die üblichen Warum-Fragen.

Es folgte eine Phase des Aktionismus – eine unbewusste Tod-Abwehrstrategie – durch eine Odyssee von Ärzten zu Heilpraktikern bis hin zu Schamanen. Die Liste war lang und beflügelt von der Hoffnung das Unvermeidliche doch noch zu vermeiden.

Abwehr ist leichter zu ertragen, als Annahme.

Nachdem sich die erfolglose Suche nach Heilung erschöpft hatte, blieb uns nichts Anderes übrig, als innezuhalten. Wir wurden noch trauriger und sehr ruhig, innen wie außen.
Es stellte sich eine altbekannte Routine im Wochenablauf ein, obwohl das Ende dieser jahrzehntelangen Selbstverständlichkeit eingeläutet war.

Wir begannen uns alle die gleiche Frage zu stellen: WAS ZÄHLT AM ENDE WIRKLICH? WAS IST WICHTIGER, ALS DAS ANDERE?

Und hier beginnt das wahre Geschenk des nahenden Abschieds.

Das Banale wurde plötzlich wertvoll. Das, was einst als mehr oder weniger unangenehme Pflicht gesehen wurde, erstrahlte in einem neuen Licht. Wie wunderbar war es morgens aufzuwachen, atmen zu können, die Sonne zu sehen. Wir begannen das Alltäglichen zu lieben.

Alles bekam einen neuen Stellenwert und führte dazu, dass wir als Familie näher zusammenrückten. Wir entwickelten nun ein großes Interesse daran, so viel wie möglich gemeinsame Stunden zu verbringen.

WARUM ERST JETZT?

Vor der Diagnose war das Bemühen für die Herstellung von Gemeinschaft nicht annähernd so geprägt gewesen von Bereitschaft und Entgegenkommen. Doch nun traten die früheren Prioritäten und die Interessen des Einzelnen freiwillig in den Hintergrund, begleitet von der eigentlichen Tragik:
Diese Freude und Wertschätzung an gemeinsam verbrachter Zeit ist gewachsen auf dem Acker des nahenden Todes.

Meine Mutter gehörte als Nachkriegskind zu jener Generation, die das Leben mehr als Last anstatt als Freude sahen. Schuldbewusst und wenig enthusiastisch plagte sie sich Tag ein Tag aus für das kleine Glück am Wochenende, das reglementiert war durch die soziale Kontrolle der Nachbarschaft und von rituellen Dingen, die man macht, ohne sie zu hinterfragen. Es ging stets darum sich so zu verhalten, dass man den Fehler suchenden tadelnden Blicken der Öffentlichkeit standhalten konnte, auch um den Preis der Selbstaufgabe. Nein, meine Mutter hatte sich Zeit ihres Lebens nicht viel Freude erlaubt.

Nun stand dieser für uns sehr wertvolle Mensch vor dem Ende seines Lebens und lehrte uns die letzte große Lektion:
Ihr nahender Tod bewirkte, dass wir alle begannen uns mit unserem eigenen Leben auseinanderzusetzten.

Warum hatten wir uns bisher mit so vielen Sorgen beschäftigt?
Warum haben wir so viel Zeit mit Dingen vergeudet, die aus heutiger Sicht völlig irrelevant erscheinen?
Warum war es uns oft so wichtig, was andere von uns dachten?
Warum haben wir nicht mehr Freude, mehr Abenteuer, mehr Leichtigkeit gelebt?

WIR BEGANNEN ÜBER UNSERE GEFÜHLE ZU REDEN, vermutlich zum ersten Mal wahrhaftig in dieser familiären Runde.

Ich saß tagelang neben meiner körperlich geschwächten Mutter und stillte mein Bedürfnis alles von ihr wissen zu wollen. Anfangs fiel ihr das Reden über Vergangenes und über ihre Gefühle schwer, doch ich beharrte liebevoll auf Antworten.

Uns blieb nicht mehr viel Zeit und WIR NUTZTEN SIE.

Meine Mutter öffnete sich – sanft und in ihrem Tempo, Stück für Stück, Tag für Tag. Wir redeten über alles, was uns bewegte, lachten, weinten und schwiegen gemeinsam. Nichts blieb unerwähnt, was uns wichtig erschien. Und ich begann ihre Worte aufzuschreiben.

So kam es, dass mir meine Mutter am Ende ihrer Tage ihre Lebensgeschichte geschenkt hatte und ich ihr meine. Das beste Erbe, dass ich wir uns gegenseitig hinterlassen konnten.

Der Tag des Abschiedes kam und wie es sich meine Mutter gewünscht hatte, starb sie im Kreise ihrer Familie Händehaltend bis zum letzten Atemzug schmerzfrei und zufrieden.

Doch das Schönste an diesem Sterben war, dass Alles ausgesprochen und nichts mehr ungeklärt war. Die letzten Worte bestanden aus bedingungsloser Liebe.

Wenn meine Mutter heute erwachen würde, gäbe es nicht zu klären, sondern nur die von Liebe gefüllten Worte zu wiederholen, mit denen wir uns verabschiedet hatten.

Wer nun denkt, dass dies eine glückliche Fügung des Schicksals war, der täuscht. Dieser langsame Abschied war ein schmerzhafter Wachstumsprozess und wurde letztendlich möglich durch eine bewusste Entscheidung dafür sich dem Sterben zu stellen – es anzunehmen.

DOCH WIE SOLLEN JENE MIT DEM TOD UMGEHEN, DIE VON EINEM AUGENBLICK AUF DEN NÄCHSTEN VÖLLIG ÜBERRASCHT VON UNS GEHEN? Menschen, die plötzlich tragisch sterben, ohne die Möglichkeit des Abschiedes bekommen zu haben.

Jeder der Geboren wird, bekommt mit dem Leben auch die Chance des langen Abschiedes geschenkt. Jeder kann sich jeden Tag der Endlichkeit seines Daseins bewusst sein. Der erste Tag des Lebens ist gleichzeitig auch ein Tag einer begrenzten Anzahl von weiteren Tagen, die vor dem dazugehörigen Tod stehen.

Der Tod geht an uns Menschen in Vorleistung, indem er uns durch sein unausweichliches Dasein deutlich macht DAS LEBEN IM JETZT aus einer anderen Sichtweise zu betrachten – nicht als Kampf, der gewonnen werden möchte, sondern als wunderbares Geschenk, dass wir annehmen dürfen.

Freuen wir uns am Leben, an den Erfahrungen, die wir machen, an all den gelebten Gefühlen und genussvollen Stunden. Nutzen wir dieses Leben mit allen Sinnen – sprechen, berühren und fühlen wir miteinander, um uns wahrhaftig kennenzulernen, innen wie außen.

Meine Mutter bedankte sich in ihrem Abschiedsbrief, dass wir uns in den letzten Monaten ihres Lebens so um sie gekümmert haben. SIE HAT ES SEHR GENOSSEN. Für uns war das der entscheidende Satz. Sie hat genossen – wahrhaftige Freude gefühlt – endlich und vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Dafür hat sich alles gelohnt, die Krankheit, das Sterben und der Tod. Ich bin unvorstellbar dankbar für die intensive Zeit.

Ich wünsche jedem, dass er nicht erst eine Diagnose braucht, um sich bewusst zu werden, dass das Leben ein Geschenk und ein Wunder ist, für dessen Annahme wir nicht ewig Zeit haben.

Verschwenden wir diese wertvolle Zeit nicht, sondern ERKENNEN WIR DIE MÖGLICHKEITEN, DIE JEDEM VON VOM ERSTEN BIS ZUM LETZTEN ATEMZUG GESCHENKT WERDEN.

Von Herzen – Jeanette Ludwig-Zeiler​